SCHAUSPIELMETHODEN – TEIL 3 EINER DREITEILIGEN REIHE
Von Grotowski bis Vasiliev: Körper, Stimme und Präsenz
Wenn du bereits die ersten beiden Teile dieser Reihe gelesen hast, kennst du die Ursprünge moderner Schauspielmethoden – von Stanislawski über Chekhov und Adler bis hin zu Strasberg, Meisner, Hagen und Spolin. Teil 3 führt dich nun zu drei Ansätzen, die sich radikal vom psychologischen Realismus entfernen – und stattdessen mit Körper, Stimme und Präsenz als zentralen Ausdrucksmitteln arbeiten.
Du lernst drei Lehrmeister kennen, die auf ganz eigene Weise neue theatrale Räume eröffnet haben:
Jerzy Grotowski, der mit seinem „armen Theater“ eine asketische, tief spirituelle Spielweise entwickelte,
Jacques Lecoq, der Bewegung, Masken und poetisches Spiel in den Mittelpunkt stellte,
Jurij Vasiliev, der mit seiner präzisen Arbeit an Atem, Sprache, Rhythmus und Dialog einen ganzheitlichen Zugang zur Bühnenpräsenz schuf.
Diese Methoden richten sich an Schauspieler*innen, die mit dem ganzen Körper denken, spielen – und hören wollen. Sie öffnen dir neue Perspektiven jenseits klassischer Rollenanalyse, laden zur Improvisation ein und schulen deine künstlerische Wahrnehmung. Vielleicht ist auch für dich ein Schlüssel dabei.
Du bist neu in dieser Reihe?
Dann schau dir zuerst die beiden vorherigen Teile an:
Schauspielmethoden Teil 1 – Von Stanislawski bis Adler
Was Stanislawski, Chekhov und Adler über Figuren, Fantasie und Bühnenwahrheit lehren.
Schauspielmethoden Teil 2 – Von Strasberg bis Spolin
Was Strasberg, Meisner, Spolin und Hagen über Emotion, Reaktion und Spielfreude vermitteln.
Inhalt
NEUE WEGE – JENSEITS VON PSYCHOLOGIE UND TEXTARBEIT
In diesem dritten Teil geht es um jene Lehrmeister, die das Schauspiel nicht primär über Figur, Emotion oder Dialog definieren – sondern über den Körper, den Raum, den Atem und die Präsenz. Lecoq, Grotowski und Vasiliev stehen für sehr unterschiedliche, aber einander ergänzende Zugänge, die dich mit ungewohnten Denk- und Trainingsweisen vertraut machen. Es geht nicht darum, Texte zu interpretieren, sondern darum, dich selbst als Instrument zu verfeinern – in der Verbindung mit Partner*in, Publikum und Welt.
Jacques Lecoq – Der poetische Körper und das Spiel als Welt
„Der Körper weiß Dinge, die der Kopf noch nicht weiß.“
Jacques Lecoq (1921–1999) zählt zweifellos zu den einflussreichsten Theaterpädagogen des 20. Jahrhunderts. Mit seiner ganzheitlichen Körperarbeit revolutionierte er die Perspektive auf das Schauspiel: weg von der Dominanz psychologischer Innerlichkeit, hin zu einer kraftvollen körperlich-dynamischen Ausdrucksfähigkeit. Seine berühmte Pariser Schule war weniger eine Technikenschmiede als vielmehr ein lebendiger Ort der kontinuierlichen Erforschung. Lecoq selbst betrachtete seine Methode nie als abgeschlossenes System, sondern vielmehr als eine lebenslange „Reise“. Eine Reise, die bis heute Generationen von Schauspieler*innen, Autor*innen, Regisseurinnen und Bühnenbildner*innen weltweit tiefgreifend prägt.
Biografischer Hintergrund
Geboren 1921 in Paris, fand Lecoq seinen Weg zum Theater über den Sport. Bewegung, Rhythmus und ein tiefes Raumempfinden bildeten von Beginn an das Fundament seiner künstlerischen Wahrnehmung. In den 1940er-Jahren arbeitete er als Schauspieler und Bewegungslehrer. Eine achtjährige Schaffensperiode in Italien ab 1948 wurde prägend, da er dort intensiv die Commedia dell’arte, das griechische Theater und die faszinierende Welt des Maskenspiels entdeckte. Besonders fruchtbar war seine enge Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Amleto Sartori, mit dem er die „neutrale Maske“ entwickelte, ein zentrales Werkzeug seiner Lehre.
1956 gründete Lecoq in Paris seine legendäre „École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq“. Ab 1976 fand die Schule ihre Heimat im berühmten „Le Central“ im 10. Pariser Arrondissement. Im Jahr 2023 zog die Schule nach Avignon in das ehemalige Feuerwehrhaus der Cité des Papes und setzt dort ihre bedeutende Arbeit fort.
Zentrale Haltung: Spiel, Bewegung, Poesie
Lecoqs Schauspielpädagogik basiert auf einem ebenso einfachen wie radikalen Gedanken: „Alles beginnt mit Bewegung.“ Der Schauspielkörper ist für ihn nicht bloß ein passiver Träger von Ausdruck, sondern die primäre Quelle des Spiels selbst. Seine Arbeit widmet sich der aufmerksamen Beobachtung der Welt, dem tiefen Erforschen ihrer vielfältigen Rhythmen, Zustände und Dynamiken, aus denen auf natürliche Weise theatrales Spiel entsteht. Lecoq strebte nach einem Theater der poetischen Körpersprache: universell verständlich, reich an Bildern und von unmittelbarer Wirkung.
Die Reise als Struktur
Die zweijährige Ausbildung an Lecoqs Schule folgt einer dramatischen Reise der Entdeckung:
- 1. Jahr: Beobachtung der Welt. Spielerische Studien der elementaren Kräfte (Wind, Wasser, Erde, Feuer), der Eigenschaften verschiedener Materialien, der Bewegungen von Tieren, der Wirkung von Farben und der Ausdruckskraft von Klängen. Ein zentraler Bestandteil ist die intensive Arbeit mit der neutralen Maske. Der Weg führt von der Stille zur Sprache.
- 2. Jahr: Dramatische Territorien. Die Studierenden tauchen ein in die Welt des Melodrams, der Tragödie, des Chors, der Commedia dell’arte, der Clownerie, der grotesken Figuren der Bouffons und entwickeln eigene, innovative Theaterformen und Ausdrucksmittel.
Ergänzt wurde jede Woche durch die sogenannten „Auto-Cours“: selbstentwickelte Szenenprojekte der Schüler*innen, die vor dem gesamten Kollektiv der Schule präsentiert wurden. Lecoq verstand diese Projekte als lebendiges Labor des kollektiven schöpferischen Prozesses.
Grundprinzipien von Lecoqs Arbeit
- Der poetische Körper: Der Schauspielkörper wird nicht primär als psychologisches Instrument betrachtet, sondern als ein poetisches Werkzeug, das kraftvolle Bilder und Metaphern hervorbringt, anstatt bloße emotionale Zustände abzubilden.
- Bewegung erzeugt Spiel: Für Lecoq ist Spiel eine organische Folge von Bewegung, nicht umgekehrt eine bloße Illustration von Gefühlen. Die Bewegung ist der Ursprung der theatralen Aktion.
- Neutralität als Anfang: Die schauspielerische Arbeit beginnt idealerweise mit einem neutralen Körper, befreit von jeglicher vorgefassten Interpretation oder persönlichen Angewohnheit.
- Die Maske als Lehrer: Die Arbeit mit verschiedenen Masken, insbesondere der neutralen Maske, schult Klarheit, Präsenz und ein präzises rhythmisches Handeln des Körpers.
- Improvisation: Spielerische Regeln schaffen Freiheit, nicht Beliebigkeit. Lecoq betonte: „Improvisation ist kein Ausdruck, sondern ein tiefgreifender Schaffensprozess.“
Ergänzende Übungen
- Elementarbewegungen: Die präzise Nachahmung der Bewegungen von Wind, Wasser, Erde und Feuer und deren Transformation in theatrale Figuren.
- Skalen des Spiels: Das Üben der bewussten Verkleinerung und Vergrößerung von Gesten, um deren Ausdruckskraft zu modulieren.
- Arbeit mit Masken: Ein schrittweiser Prozess von der neutralen zur expressiven Maske bis hin zu den spezifischen Charakteren der Commedia dell’arte und des Clowns.
- Melodram üben: Die Erzeugung von Pathos durch präzise Form und körperlichen Ausdruck, nicht durch forcierte Emotion.
- Bouffons und Groteske: Die bewusste Überzeichnung, Verzerrung und Parodie als Mittel, um die Welt auf humorvolle und kritische Weise zu spiegeln.
Warum die Lecoq-Methode so inspirierend ist
Diese Methode ist besonders wertvoll für Schauspieler*innen, die:
- ihre Kreativität organisch aus dem Körper und dem Raum entwickeln möchten.
- bildhaft, rhythmisch und mit einem Sinn für überraschende Momente arbeiten wollen.
- eine Leidenschaft für poetisches, internationales und zeitgenössisches Theater haben.
Lecoq selbst sagte: „Die Reise ist das Ziel.“
Seine Schule brachte eine beeindruckende Riege einflussreicher Theaterschaffender hervor, darunter Ariane Mnouchkine (Théâtre du Soleil), Simon McBurney (Complicité), Christoph Marthaler, Julie Deliquet, Steven Berkoff, William Kentridge, Andreas Simma, die Performance-Gruppe Mummenschanz und das Footsbarn Theatre.
BUCHTIPPS:
- Le Corps Poétique. Le corps en mouvement et la formation de l’acteur – Jacques Lecoq (Deutsch: Der poetische Körper)
- The Moving Body – Jacques Lecoq (Englische Ausgabe)
- Theatre of Movement and Gesture – Jacques Lecoq
- Mime, Mask and Movement – Mark Evans (Eine Einführung in seine Techniken)
- Jacques Lecoq and the British Theatre – Simon Murray (Sein Einfluss auf das britische Theater)
- Website: www.ecole-jacqueslecoq.com
Fazit
Lecoqs Methode eröffnet Schauspieler*innen eine faszinierende Welt, in der Bewegung zum Antrieb des Spiels wird. Sie lädt dazu ein, das psychologische Theater hinter sich zu lassen und eine lebendige Körpersprache zu entwickeln, die durch Rhythmus, Raumgefühl und poetische Vorstellungskraft geprägt ist. Ideal für alle, die Körper und Kreativität enger miteinander verbinden und jenseits der Sprache neue Ausdrucksmöglichkeiten entdecken möchten.
Jerzy Grotowski – Der Schauspieler als heiliges Instrument
„Wenn du dich radikal auf der Bühne zeigen willst – jenseits von Technik und Maske –, dann fordert dich Grotowski heraus.“
Jerzy Grotowski (1933–1999) war weit mehr als ein Theatermacher; er war ein leidenschaftlicher Forscher der menschlichen Präsenz und ein spiritueller Visionär. Er entwickelte keine herkömmliche Schauspieltechnik im klassischen Sinne, sondern suchte nach einer tieferen Wahrheit, die jenseits des bloßen „Spiels“ liegt. Für ihn war Theater ein beinahe heiliger Akt: ein existenzieller Ort, an dem der Mensch sich selbst in seiner rohesten Form begegnet – ohne Schutzschild, ohne soziale Maske.
Grotowski prägte den Begriff des „armen Theaters“ – ein Theater befreit von allem Überflüssigen: kein aufwendiges Bühnenbild, keine prunkvollen Kostüme, keine ablenkende Musik oder Spezialeffekte. Nur der*die Schauspieler*in und das Publikum in einem direkten, unvermittelten und existenziellen Austausch.
DIE GRUNDPRINZIPIEN
- Reduktion: Grotowskis Theater strebte nach radikaler Reduktion. Alles, was nicht absolut notwendig war, wurde eliminiert – Requisiten, aufwendige Technik, jegliche Form von Ablenkung. Im Zentrum stand die reine Präsenz der Schauspielenden.
- Totaler Körpereinsatz: Die schauspielerische Arbeit begann für Grotowski im Körper – mit einer intensiven Schulung von Kraft, Rhythmus, Atem und präziser physischer Aktion. Der Körper wurde zum primären Ausdrucksmittel.
- Selbstentäußerung: Grotowski forderte von seinen Schauspieler*innen eine radikale Selbstentäußerung. Das Ablegen psychologischer und sozialer Masken, bis ein Zustand der „Nacktheit“ auf der Bühne erreicht wurde – eine Ehrlichkeit jenseits konventioneller Darstellung.
- Theater als Ritual: Das Theaterspiel verstand Grotowski als eine Art rituellen Prozess der Transformation – nicht nur für den*die Schauspieler*in selbst, sondern potenziell auch für die Zuschauenden, die Zeugen dieser intensiven Begegnung wurden.
- Präsenz statt Darstellung: An die Stelle des „Spielens“ trat das reine Sein. Existieren, atmen, präsent sein im Augenblick – mehr schien es für Grotowski in seiner extremsten Form nicht zu brauchen.
TYPISCHE ÜBUNG
Plastikarbeit:
Durch präzise, wortlose Bewegungen, gesteuert von Muskelspannung, Atem und innerem Rhythmus, drückt der*die Schauspieler*in einen inneren Zustand oder eine innere Energie aus. Ziel ist weniger ästhetische Schönheit als vielmehr unmittelbare Wahrheit. Der*die Schauspieler*in wird zum Kanal, durch den etwas spricht, das tiefer liegt als Psychologie oder Text.
Oft kombinierte Grotowski diese Arbeit mit intensiven Atem- und Tierübungen, um körperliche und emotionale Blockaden zu lösen und eine tiefere Präsenz zu fördern.
WER MIT GROTOWSKI GEARBEITET HAT – UND WARUM SEINE ARBEIT SO TIEF WIRKT
Grotowski unterrichtete keine kommerziellen Stars im herkömmlichen Sinne, aber seine intensive Arbeit prägte Generationen von Theaterschaffenden weltweit. Sein Einfluss ist bis heute in freien Theaterkollektiven, Bewegungsschulen, der Regieausbildung und körperzentrierten Schauspielklassen spürbar.
Bekannte Weggefährten oder Künstler*innen, die seine Arbeit weiterentwickelt oder von ihr maßgeblich beeinflusst wurden, sind:
- Eugenio Barba (Gründer des Odin Teatret)
- Thomas Richards (Leiter des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards)
- Peter Brook (dessen Suche nach dem „leeren Raum“ Parallelen aufweist)
- Juliette Binoche, die in späteren Jahren mit Grotowskis direkten Nachfolgern arbeitete.
Seine Methode ist nicht für jede*n. Sie erfordert tiefen Mut, bedingungslose Hingabe und die Bereitschaft, sich auf einen intensiven körperlich-emotional-spirituellen Prozess einzulassen, der oft an die Grenzen des Selbst führt.
BUCHTIPPS:
- Towards a Poor Theatre – Jerzy Grotowskis grundlegendes Manifest.
- At Work with Grotowski on Physical Actions – Thomas Richards‘ detaillierter Einblick in die praktische Arbeit.
- Grotowski and Company – Ludwik Flaszen, ein enger Mitarbeiter Grotowskis, gibt Einblicke in die frühen Jahre.
- Optional: The Grotowski Sourcebook – herausgegeben von Richard Schechner und Lisa Wolford, eine umfassende Sammlung von Texten.
Fazit
Grotowski fordert Schauspieler*innen heraus, alles loszulassen – bis nur noch das Wesentliche, das rohe Menschsein, auf der Bühne präsent ist. Sein Weg ist intensiv, oft spirituell und zutiefst transformierend – eine Reise jenseits des konventionellen „Spiels“.
Jurij Vasiliev – DIE HANDELNDE STIMME ALS KÜNSTLERISCHER WEG
„Wenn du Sprache nicht nur sagen, sondern durchdringen willst – und deinen Partner im Moment wirklich spüren – dann findest du bei Vasiliev eine neue Tiefe.“
Jurij Vasiliev (*1947 in St. Petersburg) ist eine prägende Figur der Schauspielpädagogik im russischen Sprachraum und genießt auch im deutschsprachigen Raum einen herausragenden Ruf als Lehrer für schauspielerisches Sprechen. Nach seinem Schauspielstudium an der Staatlichen Hochschule für Theater, Musik und Kinematographie in Leningrad und seiner Arbeit als Schauspieler am A. S. Puschkin-Theater in Pskow promovierte er im Bereich Phonetik, Bühnensprechen und Rezitation.
Seit 1976 lehrt Vasiliev Bühnensprechen an der Staatlichen Akademie der Bühnenkünste St. Petersburg und entwickelte ein eigenes, integratives Trainingssystem, das Stimme, Sprache, Bewegung und Imagination zu einer kohärenten und kraftvollen Bühnenpräsenz verschmelzen lässt.
Bewusst vermeidet Vasiliev den Begriff „Methode“ – nicht aus Bescheidenheit, sondern aus einer tiefen Überzeugung heraus. Für ihn ist Schauspiel kein abgeschlossenes Regelwerk, sondern vielmehr ein kontinuierlicher Weg der künstlerischen Entdeckung. Dieser Weg führt über die bewusste Auseinandersetzung mit Rhythmus, Atem, gegenwärtiger Präsenz und einer tiefen dialogischen Aufmerksamkeit zu einer authentischen künstlerischen Wahrheit.
Seine Arbeit vereint auf einzigartige Weise die Elemente von Stimme, Sprache, Bewegung und Imagination zu einer ganzheitlichen Bühnenpräsenz. Im Zentrum steht dabei der schöpferische Dialog – nicht nur mit dem gesprochenen Text, sondern auch mit dem*der Spielpartner*in und der gesamten theatralen Welt.
Jede Übung ist für Vasiliev eine kleine, in sich geschlossene Aufführung. Und jedes Training wird zu einem künstlerischen Akt, getragen von einem inneren Rhythmus, intellektueller Klarheit und der Freude am Entdecken. Seine Prinzipien sind inspiriert von den wegweisenden Ideen Stanislawskis, aber auch von der körperorientierten Arbeit Meyerholds, der poetischen Sensibilität Chekhovs und der gestischen Sprachpädagogik im deutschsprachigen Raum. Seine innovativen Übungen werden heute unter dem Begriff ActingSpeech Training gelehrt – sowohl in umfassenden Schauspielprogrammen als auch in spezialisierten Weiterbildungen für Stimm- und Kommunikationspädagog*innen.
DIE GRUNDPRINZIPIEN
- Sprech-Rhythmus & Atemführung: Der Text wird nicht primär interpretiert, sondern mit höchster Präzision durch den Klang der Worte, den natürlichen Atemfluss und die inhärente rhythmische Struktur geführt. Emotion entsteht dabei nicht durch aufgesetzten Ausdruck, sondern organisch aus der authentischen Beziehungzwischen den Spielenden.
- Dialogisches Handeln: Für Vasiliev beginnt Schauspiel nicht im isolierten Inneren des*der Einzelnen, sondern in der unmittelbaren Reaktion auf das, was im Gegenüber entsteht. Der*die Spielpartner*in ist der wahre Ursprung der Handlung. Sprache wird so zu einer lebendigen Antwort, nicht zu einer bloßen Selbstinszenierung.
- Keine Interpretation – volle Präsenz: Der gesprochene Text bleibt zunächst formal neutral, wird aber von einer inneren Wachheit und Aufmerksamkeit durchdrungen. Bedeutung entfaltet sich nicht durch forcierte Betonung, sondern durch die gegenwärtige Wachheit, den bewussten Atem und die tiefe Verbindung zum*zur Partner*in.
- Ganzheitliche Wahrnehmung: Die Stimme ist für Vasiliev untrennbar mit der Körperbewegung verbunden – und diese Bewegung wiederum folgt einem inneren, oft unbewussten Impuls. Es geht um die harmonische Verbindung von bewusstem Atem, präziser Artikulation und lebendiger Vorstellungskraft.
- Vertikalität & Balancierende Körperarbeit: Der Körper bleibt während des Sprechens beweglich, plastisch und gleichzeitig geerdet – aber stets offen und empfänglich für Impulse. Die aufrechte Vertikalität bildet das Zentrum der Bühnenpräsenz: ruhig, klar und jederzeit bereit für authentischen Ausdruck.
TYPISCHE ÜBUNG
Dialog mit festem Rhythmus:
Zwei Schauspieler*innen sprechen einen anspruchsvollen literarischen Text (beispielsweise aus Stücken von Tschechow oder Shakespeare) in einem vorgegebenen, präzisen Sprachrhythmus, zunächst ohne bewusste Mimik oder interpretatorische Zuspitzung. Was anfänglich rein technisch erscheinen mag, entfaltet oft eine überraschende emotionale Tiefe: Die Beziehung zwischen den Figuren entsteht nicht durch aufgesetzten Ausdruck, sondern durch den gemeinsamen Atem, die fokussierte Aufmerksamkeit und die unmittelbare dialogische Reaktion.
Vasiliev betrachtet jede Übung als eine kleine, verdichtete und konzentrierte Aufführung – zutiefst theatral, aber frei von oberflächlicher Spielerei. Das übergeordnete Ziel ist die Erreichung einer vollkommenen Gegenwärtigkeit im gegenwärtigen Moment des Spiels.
WER MIT VASILIEV ARBEITET – UND WARUM SEINE METHODE BESONDERS IST
Über Jahrzehnte hinweg lehrte Vasiliev an renommierten internationalen Schauspielakademien und Universitäten – von St. Petersburg über Berlin, Leipzig und Wien bis nach Shanghai. In Österreich war er von 2004 bis zum Beginn des Corona-Lockdowns jährlich ein hochgeschätzter Gastdozent an der Schauspielschule Krauss in Wien – seine tiefgreifenden Impulse prägen den Unterricht dort bis heute nachhaltig.
Sein immenses Wissen und seine innovative Methodik hat Jurij Vasiliev in 28 Fachbüchern und zahlreichen Fachartikeln fundiert. Im deutschsprachigen Raum sind insbesondere seine Monographien „Imagination – Bewegung – Stimme“ (2000) und „E(Stimme) = m(Bewegung) mal v(Atem)“ (2002) von großer Bedeutung. Die internationale Relevanz seiner Arbeit unterstreicht die Tatsache, dass einige seiner Bücher in mehrere Sprachen übersetzt wurden, darunter auch Mandarin.
Sein Wissen und seine Erfahrung gibt er nicht nur an angehende Schauspieler*innen weiter, sondern auch an professionelle Sprecher*innen, Trainer*innen und Menschen, die beruflich intensiv mit Stimme und Sprache arbeiten. Sein Ansatz ist weniger eine starre Technik im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr eine lebensnahe und poetische Praxis, die durch ihre klare Struktur und ihre philosophische Tiefe gleichermaßen überzeugt.
Besonders geeignet ist sein Zugang für Menschen, die:
- weniger auf das bloße „Spielen“ fokussieren und mehr authentisch präsent sein möchten.
- Sprache als ein zentrales Element der zwischenmenschlichen Beziehung erfahren und gestalten wollen.
- ihre Präsenz auf der Bühne und im alltäglichen Leben nachhaltig vertiefen möchten.
Vasilievs Training ist legendär – nicht zuletzt wegen seiner innovativen Tennisball-Arbeit, die auf einzigartige Weise Stimme, Körper und Atmung in einem unmittelbar sinnlich erfassbaren System verbindet.
„Wer bei Jurij Vasiliev trainiert, trainiert nicht nur Stimme, sondern auch Vorstellungskraft, Emotion, Wahrnehmung – und entwickelt die Fähigkeit, durch Sprache wahrhaftig zu handeln.“ – Prof. Gerhard Neubauer, Leipzig
BUCHTIPPS:
- Imagination – Bewegung – Stimme (2000)
- E(Stimme) = m(Bewegung) mal v(Atem) (2002)
- Bühnensprechen: Wahrnehmung – Vorstellung – Einfluss (2007, russisch)
- Unterricht des Bühnensprechens: Die Magie der Improvisation (2015, russisch)
- Weitere Titel sind erhältlich über www.jurijvasiljev.com
Fazit
Vasiliev lehrt Schauspieler*innen, weniger zu spielen und mehr präsent zu sein. Seine Methode ist subtil, aber von großer Kraft – und öffnet einen tiefgründigen Raum, in dem Text, bewusster Atem und die lebendige Beziehung zum*zur Partner*in auf organische Weise verschmelzen. Sein umfangreiches schriftliches Werk zeugt von der Tiefe und Relevanz seines Ansatzes weit über den russischen Sprachraum hinaus.
Was du aus diesen Methoden mitnehmen kannst
Grotowski, Lecoq und Vasiliev zeigen, dass Schauspiel weit mehr ist als das Erarbeiten von Rollen und Szenen. Sie richten den Blick auf das Wesentliche: auf den Körper als Resonanzraum, auf Stimme als lebendige Handlung, auf Präsenz als Haltung im Raum. Ihre Methoden eröffnen eine andere Art von Tiefe – jenseits von Psychologie, Analyse und Textauslegung.
Was alle drei verbindet: Sie fordern dich auf, dich als Spieler*in ganz in den Prozess zu begeben. Nicht nachzudenken, sondern zu tun. Nicht zu bewerten, sondern wahrzunehmen. Nicht zu spielen, sondern anwesend zu sein.
Wenn du dich auf diese Art von Arbeit einlässt, wird deine Bühne größer – im Inneren wie im Außen. Und vielleicht entdeckst du in dieser Weite eine neue Freiheit, dich auszudrücken: mit deiner Stimme, deinem Körper, deiner ganzen Aufmerksamkeit.
Drei Perspektiven – ein Ziel: Glaubwürdiges Schauspiel
Nach der intensiven Auseinandersetzung mit zehn Schauspielmethoden in drei Blogartikeln folgt hier eine zusammenfassende Gegenüberstellung. Sie hilft dir, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Ansätze besser einzuordnen – und deinen persönlichen Zugang zum Schauspiel weiterzuentwickeln.
Welcher Weg ist der richtige? – Schauspieltechniken im Vergleich
Nach der Begegnung mit all diesen großen Namen, ihren spezifischen Methoden und prägnanten Übungen drängt sich am Ende wohl die entscheidende Frage auf: Welche Technik ist nun die richtige für dich? Oder vielleicht noch treffender formuliert: Welche Technik kann dich – heute, in dieser besonderen Rolle, in dieser spezifischen Szene – einen entscheidenden Schritt weiterbringen? Denn eines ist im Laufe dieses Überblicks deutlich geworden: Es gibt nicht die eine richtige Methode. Vielmehr existiert eine Vielzahl von wertvollen Werkzeugen – und es liegt an dir, zu entscheiden, wann du welches Werkzeug am besten einsetzen kannst.
WAS VERBINDET DIESE METHODEN?
Trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte verfolgen alle großen Schauspielmethoden ein gemeinsames Ziel: Wahrhaftigkeit. Sie suchen jeweils einen spezifischen Weg zur lebendigen Gestaltung einer Figur – sei es über die Kraft der Erinnerung (Strasberg), die Dynamik der Partnerbeziehung (Meisner), die expressive Vielfalt der Bewegung (Lecoq), die unbegrenzte Welt der Vorstellungskraft (Chekhov), die Reduktion auf das Wesentliche (Grotowski), die präzise Artikulation der Sprache (Vasiliev), die intellektuelle Durchdringung (Adler) oder die befreiende Freude am Spiel (Spolin). Ein weiteres verbindendes Element ist die Erkenntnis: Schauspiel ist ein Handwerk – lernbar, trainierbar und durch Erfahrung vertiefbar. Und seine Quelle liegt nicht in der Eitelkeit, sondern in aufmerksamer Beobachtung, tiefem Einfühlungsvermögen und künstlerischer Verantwortung.
Methode | Zugang | Ideal für … |
Stanislawski | Psychologisch, organisch | Rollen mit emotionaler Tiefe und klaren Handlungszielen |
Strasberg | Emotionales Gedächtnis | Intensives Filmschauspiel, tragische Figuren |
Meisner | Impuls & Reaktion | Spontanes, dialogisches Spiel, Kameraarbeit |
Chekhov | Bild, Energie, Gestus | Poetisches Theater, Transformation, Fantasierollen |
Grotowski | Körper, Ritual, Präsenz | Körpertheater, physisches Extremspiel, Ensemblearbeit |
Vasiliev | Sprache, Rhythmus, Beziehung | Szenische Präzision, Sprachbewusstsein, klassischer Text |
Adler | Imagination, Analyse, Haltung | Figuren mit Weltbezug, intellektuelle Rollenarbeit |
Lecoq | Bewegung, Raum, Maske | Commedia, Clown, visuelles Theater, Gruppenimprovisation |
Spolin | Spiel, Spontaneität, Kreativität | Improvisation, Gruppenarbeit, Anfänger*innen und Profis |
Hagen | Alltag, Substitution, Genauigkeit | Realistisches Theater, Szenenarbeit mit Handlungstiefe |
DEIN INDIVIDUELLER WEG
Es gibt nicht die eine „richtige“ Schauspieltechnik. Stattdessen findest du eine Vielzahl an Zugängen, aus denen du das mitnehmen kannst, was für dich funktioniert. Du kannst psychologische Rollenanalyse mit körperlicher Arbeit verbinden, imaginiertes Erleben mit präziser Textarbeit, spontane Reaktion mit handwerklicher Klarheit. Entscheidend ist, dass du einen Zugang findest, der dich unterstützt – auf der Bühne, vor der Kamera und im Arbeitsprozess.
UND WELCHE SCHAUSPIELMETHODE LERNT MAN AN EINER SCHAUSPIELSCHULE?
Eine berechtigte Frage, aber keine, auf die es eine eindeutige Antwort geben kann. An den meisten professionellen Schauspielausbildungen wird nicht ausschließlich nach einer bestimmten Methode gearbeitet. Stattdessen ist es oft ein aufbauender Mix aus verschiedenen Techniken. Was an einer Schule vermittelt wird, hängt davon ab, welche Methoden die Schulleitung vertritt, welche Lehrenden sie engagiert, welchen besonderen Hintergrund diese mitbringen und wie intensiv sie die jeweiligen Techniken im Unterricht einsetzen.
Wie sieht das konkret an der Schauspielschule Krauss aus?
Bei uns liegt der Schwerpunkt auf realistisch-psychologisch fundierten Schauspielmethoden wie Stanislawski, Hagen und Meisner – vor allem im ersten Jahr, weil wir einfach die Erfahrung gemacht haben, dass sie sich besonders gut für die Grundausbildung eignen.
In weiteren Unterrichtsfächern fließen aber auch Elemente aus emotional-identifikatorischen und körperlich-experimentellen Zugängen ein. Mancher Unterricht enthält elementare Übungen inspiriert von Lecoq, Spolin oder Grotowski, und im Sprechunterricht ist die Arbeit nach Vasiliev ein wichtiger Bestandteil.
Schauspielmethoden sind wie ein reicher Werkzeugkasten. Im Laufe der Ausbildung sollen die Schauspielschüler*innen lernen, was sie wann brauchen und wie sie diese Werkzeug für sich nutzen können. Nicht jede Methode passt immer, aber es gibt immer etwas, das sie in ihrem Prozess weiterbringt. Manches braucht Zeit, um zu wirken, manches wächst erst mit der eigenen Erfahrung. Und ganz oft fügt sich vieles erst später zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen.
– Michaela Krauss-Boneau, Direktorin der Schauspielschule Krauss
Abschließend für deinen Weg
Um deinen eigenen schauspielerischen Ausdruck zu finden: Sei offen und probiere verschiedene Zugänge aus, die dir im Unterricht begegnen. Lies weiter, schärfe deine Beobachtungsgabe und scheue dich nicht, Fragen zu stellen. Und gib dir die Zeit, die du für deine Entwicklung brauchst. Denn das Wertvollste, das du aus all diesen Techniken ziehen wirst, ist nicht eine starre Methode, sondern die Freiheit, deinen ganz eigenen Weg zu finden.