Schauspielunterricht eines Lehrmeisters für Schauspielmethoden in einem Probenraum einer Schauspielschule. Viele Schauspielschüler*innen nehmen teil, um die Schauspieltechniken zu erlernen.

Schauspielmethoden

Teil 1 – Stanislawski, Chekhov, Adler

Schauspielmethoden – Teil 1 einer dreiteiligen Reihe

Wenn du dich ernsthaft mit Schauspiel beschäftigst, begegnen dir unweigerlich verschiedene Methoden: beim Lesen der Werke großer Lehrmeister*innen, im Schauspielunterricht, in Workshops oder im Gespräch mit Mitstudierenden. Plötzlich befindest du dich in einer Welt voller Fachbegriffe, Übungen und scheinbar widersprüchlicher Herangehensweisen.

Welche Methode ist die richtige für dich? Welche passt zu deinen Bedürfnissen? Welche hilft dir auf der Bühne – und welche vor der Kamera? Mit welcher Technik findest du am schnellsten Zugang zu einer Figur?

Dieser Überblick stellt dir zehn prägende Persönlichkeiten der Schauspielpädagogik vor – aufgeteilt auf drei Blogartikel. Du erfährst, wie unterschiedlich die Zugänge zur Schauspielkunst sein können, welche Techniken dich unmittelbar ansprechen und welche dich vielleicht herausfordern werden. Beides ist gut – denn genau darum geht es in der Ausbildung zur Schauspieler*in: deinen eigenen Weg zu finden.

 

Was dich in dieser Blogserie erwartet

Im ersten Teil dieser Blogreihe lernst du drei Persönlichkeiten kennen, die den Ausgangspunkt moderner Schauspielmethodik bilden. Konstantin Stanislawski legte das Fundament für psychologisch glaubwürdiges Schauspiel. Michael Chekhov und Stella Adler entwickelten seine Lehre auf ganz eigene Weise weiter. Chekhov arbeitete mit der Kraft der Imagination, Adler mit analytischem Denken, Haltung und künstlerischer Verantwortung.

Teil zwei stellt vier Lehrmeisterinnen und Lehrmeister vor, die auf sehr unterschiedliche Weise nach Wahrhaftigkeit im Spiel suchen. Lee Strasberg vertritt das introspektive Method Acting. Uta Hagen verbindet präzise Analyse mit alltagsnaher Umsetzung. Sanford Meisner legt den Fokus auf Reaktion, aktives Zuhören und Präsenz im Moment. Viola Spolin bringt mit Improvisation und Spielfreude eine spielerische Leichtigkeit ins Training. Ihre Ansätze sind praxisnah, zugänglich und doch sehr unterschiedlich.

Der dritte Teil widmet sich schließlich jenen Persönlichkeiten, die Körper, Stimme und Raum in den Mittelpunkt stellen. Jacques Lecoq, Jerzy Grotowski und Jurij Vasiliev stehen für eine Theatertradition, die weniger über Analyse als über körperliche Präsenz, rhythmische Präzision und poetisches Spiel wirkt.

Inhalt

Schauspielmethoden – über Denkweisen, die seit Jahrzehnten die Schauspielwelt prägen

Stanislawski, Chekhov, Adler, Strasberg, Hagen, Meisner, Spolin, Lecoq, Grotowski, Vasiliev.  
Diese Namen stehen vertretend für einige andere für einflussreiche Denkrichtungen im Schauspiel. Wenn sie auch oft als „Methoden“ bezeichnet werden, sind sie keine in Stein gemeißelten Schulen. Wenn du tiefer eintauchst, wirst du feststellen, dass diese Ansätze Teil einer spannenden Entwicklung sind.

Jede Methode basiert auf einer bestimmten Haltung zur Figur und legt den Fokus auf unterschiedliche Aspekte:

  • Welche innere Einstellung prägt die Darstellung der Figur?
  • Liegt der Schwerpunkt auf dem Körper, der Sprache, der Erinnerung oder den Beziehungen der Figur?
  • Welche spezifischen Techniken kommen zum Einsatz, und welche Rolle spielt die persönliche Geschichte des Schauspielers?

Dieser Überblick soll dir die beeindruckende Vielfalt der Schauspielmethoden von psychologisch fundierter Rollenarbeit bis hin zu körperlich-experimentellen Zugängen zeigen. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich die Denkweisen sein können: von analytischer Präzision bis hin zu kreativer Spontaneität.

Wichtig zu verstehen ist: Schauspielmethoden sind keine abgeschlossenen Systeme mit einem „Entweder-oder“-Ansatz. Viele der Techniken, die heute gelehrt und angewendet werden, sind eng miteinander verbunden. Sie wurden weiterentwickelt, kombiniert, kritisiert und manchmal sogar radikal neu gedacht. So ist kein starres Regelwerk entstanden, sondern vielmehr ein lebendiges und inspirierendes Feld voller unterschiedlicher Ansätze.

Einige Beispiele:

Stella Adler, eine Schülerin Stanislawskis, entwickelte ihren eigenen Ansatz, indem sie dessen frühe Betonung der emotionalen Erinnerung ablehnte und stattdessen die Kraft der Imagination in den Vordergrund stellte. Michael Chekhov, ebenfalls aus dem Stanislawski-Umfeld, entwickelte eine poetisch-energetische Spielweise. Lee Strasberg radikalisierte Stanislawskis frühe Ideen zum Method Acting, während Sanford Meisner als Reaktion darauf einen ganz anderen Weg einschlug. Uta Hagen wiederum verband analytische Genauigkeit mit einer alltagsnahen Herangehensweise. Andere wie Jacques Lecoq und Jerzy Grotowski brachen bewusst mit dem Realismus und schufen neue, körperorientierte, rituelle und improvisatorische Zugänge.

 

Richtungen statt Dogmen

Zur Orientierung lassen sich die Methoden in sieben Richtungen einteilen: 

• realistisch-psychologisches Schauspiel (Stanislawski, Meisner)
• analytisch-strukturiertes Arbeiten (Hagen)
• emotional-identifikatorische Techniken (Strasberg)
• poetisch-imaginative Ansätze (Chekhov, Adler)
• körperorientiertes Spiel (Lecoq, Grotowski)
• spielerisch-improvisatorisches Arbeiten (Spolin)
• sprachlich-rhythmische Präzision (Vasiliev)

Diese Kategorien sind jedoch keine starren Grenzen, sondern eher wie Werkzeuge in einem gemeinsamen Koffer, die an Schauspielschulen flexibel vermittelt werden.

Ziel dieser Übersicht ist es nicht, eine endgültige Wahrheit zu präsentieren, sondern dir zu helfen, die Grundlagen zu verstehen, Unterschiede und Verbindungen zu erkennen und so deinen eigenen schauspielerischen Weg zu finden.

Und was erwartet dich jetzt?

In den nächsten Abschnitten lernst du zehn Lehrmeister*innen der Schauspielkunst im Detail kennen – verteilt auf drei Blogartikel.

Teil 1 beginnt beim Ursprung: beim großen Konstantin Sergejewitsch Stanislawski und zwei Künstler*innen, die sich direkt auf ihn beziehen, sein System jedoch auf sehr unterschiedliche Weise weiterentwickelt haben: Michael Chekhov und Stella Adler.

Konstantin Stanislawski – Der Ursprung des modernen Schauspielens

„Wenn du nach einer Technik suchst, die dich ehrlich, tief und glaubwürdig macht – fang bei Stanislawski an.“

Konstantin Stanislawski (1863–1938) war eine revolutionäre Figur des Theaters: Schauspieler, Regisseur und Mitbegründer des legendären Moskauer Künstlertheaters. Er war der Erste, der Schauspiel nicht als bloße Imitation oder Talent ansah, sondern als ein Handwerk, das systematisch untersucht und gelehrt werden kann. Seine zentrale Frage war richtungsweisend:

„Was würde ich tun, wenn ich in der Situation der Figur wäre?“

Anstelle von äußerlichem Pathos und übertriebener Mimik strebte Stanislawski nach innerer Wahrheit und psychologischer Motivation. Sein umfassendes Lehrsystem, oft schlicht als „Das System“ bekannt, legte das Fundament für viele Schauspieltechniken des 20. und 21. Jahrhunderts. Fast alle späteren Lehrmeister*innen – von Strasberg über Meisner bis Adler oder Hagen – entwickelten ihre Methoden aus Stanislawskis Grundlagen weiter oder setzten sich kritisch mit ihnen auseinander.

 

Die Grundprinzipien

Emotionale Wahrhaftigkeit
Stanislawski wandte sich ab vom künstlichen, rein äußerlichen Spiel. Sein Ziel war ein Schauspielstil, der authentisch, lebendig und psychologisch nachvollziehbar ist. In seiner frühen Phase experimentierte er mit der emotionalen Erinnerung, dem bewussten Abrufen persönlicher Erfahrungen, um ähnliche Emotionen auf der Bühne zu erzeugen. Später entwickelte er subtilere Ansätze, die den Fokus stärker auf physische Handlungen legten, aus denen organisch Emotionen entstehen sollten. Dieser Wandel war ein wichtiger Schritt in der Entwicklung seines Systems. Während Stanislawski anfangs glaubte, dass Gefühle durch Erinnerung hervorgerufen werden müssen, erkannte er später, dass Handlung selbst der beste Auslöser für Emotion ist. Dieses Prinzip – „durch das Tun zum Gefühl“ – ist bis heute grundlegend für viele Schauspielausbildungen.

Gegebene Umstände
Jede Figur existiert in einem spezifischen Kontext: sozial, historisch, familiär. Das Verständnis der „gegebenen Umstände“ – also Zeit, Ort, sozialer Status, Beziehungen und die gesamte Welt der Figur – ist für Stanislawski unerlässlich, um glaubwürdig zu spielen.

Ziel und Motivation
Jede Figur verfolgt ein übergeordnetes Ziel (das zentrale Wollen) und wird von spezifischen Motivationen in ihren Handlungen angetrieben. Stanislawski betonte, dass die Suche nach diesem inneren Antrieb die Grundlage für jede glaubwürdige Handlung bildet: Aus dem Wollen entsteht das Tun.

Subtext
Nicht allein der gesprochene Text ist entscheidend, sondern das, was zwischen den Zeilen liegt. Was denkt oder fühlt die Figur wirklich, wenn sie etwas sagt? Der Subtext bildet das emotionale Fundament unter der Oberfläche der Sprache.

Das magische „Wenn“
Die Frage „Was wäre, wenn ich in dieser Situation wäre?“ ermöglicht es Schauspieler*innen, sich in den Zustand der Figur hineinzuversetzen, ohne mit ihr zu verschmelzen. Es schafft eine emotionale Nähe ohne Selbstverlust und regt die Vorstellungskraft an. Stanislawski selbst warnte davor, sich ausschließlich auf das Gefühl zu verlassen. Für ihn war künstlerische Intuition wichtig – aber ebenso die bewusste Kontrolle durch den Verstand. Emotionen sollten nicht unkontrolliert fließen, sondern innerhalb klarer Spielimpulse gefasst sein. So entsteht ein Zusammenspiel aus innerem Erleben und äußerer Struktur – ein Prinzip, das viele seiner Schüler*innen weiterentwickelt haben

Konzentration und Aufmerksamkeitskreise
Stanislawski entwickelte die Idee der Aufmerksamkeitskreise, die von der inneren Welt des Schauspielers (Gefühle, Gedanken) bis zur äußeren Umgebung (Partner*in, Requisit, Raum) reichen. Die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit schärft die Bühnenpräsenz und die Interaktion.

 

DIE W-FRAGEN – EINES SEINER WICHTIGSTEN WERKZEUGE

Ein zentrales Werkzeug in Stanislawskis System ist die Arbeit mit den sogenannten W-Fragen. Sie helfen, eine Rolle präzise zu analysieren und mit psychologischer Tiefe zu gestalten:

Wer?
Identität der Figur, ihr Hintergrund, ihre Beziehungen, Charaktereigenschaften.

Was?
Kern der Szene, Konflikt, Handlung und Ziel der Figur.

Wo?
Ort des Geschehens – mit Einfluss auf Atmosphäre, Verhalten und Ausdruck.

Wann?
Zeitpunkt der Szene – Tageszeit, Epoche oder situativer Moment.

Warum?
Motivation der Figur – was treibt sie an?

Wozu?
Ziel innerhalb der Szene – was soll erreicht, verhindert oder verändert werden?

Diese Fragen dienen nicht nur der Rollenentwicklung, sondern verankern das Spiel in innerer Logik und emotionaler Wahrheit. Sie sind bis heute aus dem Schauspielunterricht nicht wegzudenken.

Eine Rolle zu gestalten bedeutete für Stanislawski nicht, mit ihr zu verschmelzen, sondern sie mit innerer Logik zu füllen. Die Figur ist für ihn ein Konstrukt – das durch analytisches Arbeiten, emotionales Erforschen und körperliches Handeln zum Leben erwacht. Der Schauspieler bleibt dabei immer ein bewusst agierender Künstler – nicht bloß ein „Gefühlsbehälter“

Typische Übung

Alltag mit innerem Ziel:
Ein*e Schauspieler*in erhält eine einfache Alltagsaufgabe, z. B. „den Tisch decken“. Diese Handlung soll jedoch mit einem starken inneren Antrieb verbunden werden: Die Person muss unbedingt jemanden beeindrucken, um etwas Wichtiges nicht zu verlieren. Die äußere Handlung bleibt gleich, aber der innere Zustand und die subtilen Handlungen verändern sich grundlegend.

 

WER MIT STANISLAWSKI ARBEITET – UND WARUM ES SICH LOHNT

Nahezu alle späteren Schauspielmethoden lassen sich auf Stanislawskis wegweisende Arbeit zurückführen, sei es die Technik von Meisner, Strasberg oder Hagen. Er legte den Grundstein für ein Schauspiel, das psychologisch nachvollziehbar, emotional fundiert und glaubwürdig ist. Bis heute berufen sich viele bedeutende Schauspieler*innen auf seine Prinzipien:

  • Benedict Cumberbatch arbeitet mit klar definierten Zielen für seine Figuren.
  • Frances McDormand beginnt jede Rolle mit der intensiven Suche nach dem zentralen Wunsch der Figur.
  • Ralph Fiennes bezeichnet das Moskauer Künstlertheater als eine seiner stärksten künstlerischen Prägungen.

Auch wenn heute kaum jemand ausschließlich nach der „reinen Lehre“ Stanislawskis arbeitet, bleibt sein Einfluss auf die moderne Schauspielkunst unbestritten. Er legte mit seinem „System“ den Grundstein für viele der realistisch-psychologisch fundierten Techniken, die wir heute kennen und die an Schauspielschulen weltweit gelehrt werden.

Man könnte sagen, dass indirekt sehr viele Schauspieler*innen nach den Prinzipien arbeiten, die Stanislawski entwickelt hat. Seine Ideen von emotionaler Authentizität, der Bedeutung der „gegebenen Umstände“, der Suche nach der Motivation der Figur und der Wichtigkeit der organischen Verbindung zwischen innerem Leben und äußerem Ausdruck sind in den Arbeitsweisen vieler Schauspieler*innen tief verwurzelt – auch wenn sie sich vielleicht nicht explizit als „Stanislawski-Schauspieler“ bezeichnen.

Warum lohnt es sich also, sich mit Stanislawski zu beschäftigen?

  • Ursprung verstehen: Wer Stanislawski versteht, versteht die Wurzeln vieler moderner Schauspieltechniken besser. Es hilft, die Entwicklung des schauspielerischen Handwerks nachzuvollziehen.
  • Fundament legen: Seine Übungen und Prinzipien bieten ein solides Fundament für eine glaubwürdige und authentische Darstellung. Sie schulen die Fähigkeit, sich tief in eine Rolle hineinzuversetzen.
  • Sprache entwickeln: Stanislawskis Vokabular und seine Konzepte (wie „Superziel“, „innere Rechtfertigung“, „magisches Wenn“) bieten eine wertvolle Sprache, um über Schauspiel präzise zu sprechen und die eigene Arbeit zu reflektieren.
  • Tiefe erreichen: Seine Betonung der emotionalen Wahrheit und der psychologischen Durchdringung kann Schauspieler*innen helfen, eine größere Tiefe und Komplexität in ihren Rollen zu erreichen.

Auch wenn sich die Schauspielausbildung und die Anforderungen an Schauspieler*innen weiterentwickelt haben, bleiben Stanislawskis grundlegende Erkenntnisse über die menschliche Natur und das Wesen des schauspielerischen Prozesses von unschätzbarem Wert. Er ist der Ausgangspunkt für viele Wege, die Schauspieler*innen heute beschreiten.

BUCHTIPPS:

  • Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst
  • Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle
  • Die Kunst des Erlebens (eine Zusammenfassung seiner wichtigsten Prinzipien)
  • Empfehlenswert zur Wirkungsgeschichte: The Method – How the Twentieth Century Learned to Act von Isaac Butler

Fazit

Stanislawski ermöglicht es Schauspieler*innen, Figuren von innen heraus tiefgehend zu verstehen. Seine Methode bildet das unverzichtbare Fundament für glaubwürdiges und tiefes Schauspiel – sowohl auf der Bühne als auch vor der Kamera.

Michael Chekhov – Die Kraft der Imagination

„Wenn du dich beim Spielen oft festfährst, weil du zu viel analysierst – dann vertraue auf deine Vorstellungskraft.“

Michael Chekhov (1891–1955) war nicht nur ein brillanter Schauspieler und Regisseur, sondern auch einer der poetischsten und visionärsten Schüler Konstantin Stanislawskis. Als Neffe des berühmten Dramatikers Anton Tschechow teilte er zunächst die Suche seines Lehrers nach psychologischer Wahrheit auf der Bühne. Doch bald entwickelte er einen radikal eigenständigen Ansatz, der die Kraft der Imagination ins Zentrum stellte.

Chekhov misstraute der ausschließlichen Abhängigkeit von persönlichen Erinnerungen zur Erzeugung von Emotionen. Er glaubte an die unmittelbare schöpferische Kraft der Vorstellungskraft – an das innere Bild, den intuitiven Impuls, den expressiven Gestus. Für ihn war Schauspiel eine transformatorische Kunst: Die Figur entsteht nicht aus dem Ich des Schauspielers, sondern kommt durch die imaginative Arbeit zu ihm.

DIE GRUNDPRINZIPIEN

Psychologischer Gestus: Jede Figur trägt eine innere Haltung, die sich in einem charakteristischen körperlichen Ausdruck manifestiert. Dieser psychologische Gestus ist der physische Abdruck der Absicht und des inneren Zustands der Figur. Er ist nicht nur eine äußere Pose, sondern ein lebendiger Ausdruck der inneren Welt.

Imaginäres Zentrum: Jede Figur hat ein energetisches Zentrum, einen imaginären Ort im Körper, von dem ihre Energie und ihre Bewegungen auszustrahlen scheinen. Dieses Zentrum – beispielsweise im Kopf für eine intellektuelle Figur, in der Brust für eine emotionale oder im Becken für eine triebhafte – beeinflusst Haltung, Bewegung und Ausstrahlung.

Atmosphäre: Jede Szene ist von einer bestimmten Atmosphäre durchdrungen, einem emotionalen und energetischen Klima. Der Schauspieler stimmt sich auf diese Atmosphäre ein, ähnlich wie auf das Wetter, und lässt sie seine Handlungen und Reaktionen durchdringen.

Transformation: Der Schauspieler verwandelt sich in die Figur, indem er sich bewegt, fühlt und vorstellt – nicht primär durch die Analyse seiner eigenen Vergangenheit. Die imaginative Identifikation ermöglicht eine unmittelbare und oft überraschende Verbindung zur Figur.

 

TYPISCHE ÜBUNG

Qualität der Bewegung:

Eine Szene wird mehrmals gespielt, wobei der Fokus jedes Mal auf einer anderen Qualität der Bewegung liegt: schwer und langsam, leicht und fließend, eckig und abgehackt. Der Schauspieler beobachtet aufmerksam, wie jede Bewegungsqualität seine innere Energie und sein Gefühl für die Figur verändert. So wird ein Zugang zur Figur nicht über intellektuelles Verstehen, sondern über körperliche Empfindung und intuitivem Gefühl gefunden.

 

WER MIT CHEKHOV ARBEITET – UND WARUM SEINE METHODE SO WIRKUNGSVOLL IST

Chekhovs Methode findet heute breite Anwendung, insbesondere in der Figurenentwicklung und in physisch orientierten Rollenarbeiten, sowohl im Theater als auch im Film. Sie ermöglicht es Schauspielern, kreative und unkonventionelle Zugänge zu ihren Rollen zu finden.

Zu seinen prominenten Schüler*innen gehörten:

  • Anthony Hopkins
  • Marilyn Monroe
  • Jack Nicholson
  • Helen Hunt
  • Johnny Depp, dessen oft fantasievoll gestaltete Figuren stark von inneren Bildern und Chekhovs Prinzipien inspiriert sind.

Sein Einfluss ist besonders spürbar bei Rollen, die jenseits des reinen Realismus liegen – Außenseiter, Träumer, Königinnen, fantastische Wesen. Aber auch im realistischen Spiel verleiht seine Technik Energie, Klarheit und unerwartete, frische Impulse.

BUCHTIPPS:

  • To the Actor – Michael Chekhov (Sein Hauptwerk)
  • Michael Chekhov’s Acting Technique – Mala Powers (Eine Schülerin gibt Einblicke)
  • Michael Chekhov: Eine Einführung – Lenard Petit (Eine zugängliche Einführung)
  • The Path of the Actor – Michael Chekhov (Autobiografische Notizen und Reflexionen)

Fazit

Chekhov öffnet Schauspieler*innen einen faszinierenden Weg zur Figur – über die unbegrenzte Kraft der Fantasie. Seine Methode ist besonders wertvoll für intuitive Arbeiter*innen und für jene, die eine körperlich spürbare und energetische Präsenz auf der Bühne oder vor der Kamera suchen.

Stella Adler – Die Fantasie als schöpferische Kraft

„Wenn du aufhören willst, nur aus deinem eigenen Leben zu spielen – und stattdessen beginnen willst, eine größere Welt zu erschaffen – dann geh zu Adler.“

Stella Adler (1901–1992) war eine prägende Figur der amerikanischen Schauspielpädagogik: leidenschaftlich, intellektuell und von ihren Schüler*innen viel fordernd. Als einzige amerikanische Schauspielerin hatte sie die einzigartige Gelegenheit, direkt bei Konstantin Stanislawski in Paris in den 1930er-Jahren zu studieren. Dort erlebte sie eine entscheidende Phase seiner Weiterentwicklung: eine Abkehr vom frühen Fokus auf das emotionale Gedächtnis hin zur befreienden Kraft der Vorstellungskraft und Imagination. Adler verstand ihre Arbeit nicht als Widerspruch zu Stanislawski – im Gegenteil: Sie sah sich als Bewahrerin jener Phase seiner Lehre, die in Amerika oft übersehen wurde.

Nach ihrer Rückkehr in die USA entwickelte sich Adler zu einer wichtigen Gegenstimme zu Lee Strasberg und wurde zur Mentorin ganzer Generationen von Schauspieler*innen, die ihren intellektuellen und weltoffenen Ansatz schätzten.

DIE GRUNDPRINZIPIEN

Fantasie statt emotionalem Gedächtnis: Für Adler waren Gefühle keine bloße Reproduktion der Vergangenheit, sondern das Ergebnis einer lebendigen Imagination. Schauspieler*innen sollten nicht ihre eigenen Wunden auf der Bühne wiederholen, sondern durch intensive Recherche, Empathie und Vorstellungsarbeit eine andere, größere Realität zum Leben erwecken. Für Adler war es keine künstlerische Leistung, persönliche Traumata auf die Bühne zu bringen – sondern ein Mangel an handwerklicher Fantasie.

Handlung vor Gefühl: Adler betonte die Primarität der Handlung. Sie arbeitete konsequent vom Text, von der klaren Absicht und von der präzisen Handlung der Figur aus. Die Gefühle ergaben sich organisch daraus und nicht umgekehrt.

Charakteranalyse & Themenbewusstsein: Ein tiefes Durchdringen des Stücks war für Adler unerlässlich – in seinen dramaturgischen, gesellschaftlichen und zutiefst menschlichen Dimensionen. Die zentralen Fragen waren: Wer ist diese Figur? In welcher Welt existiert sie? Wofür steht sie ein? Nur durch diese umfassende Analyse konnte eine wirkliche Tiefe in der Darstellung entstehen.

Soziale Verantwortung des Schauspielers: Adler sah im Schauspiel eine künstlerisch-moralische Verpflichtung. Schauspieler*innen besitzen Macht und Verantwortung und sollten diese nutzen, um Wahrheiten sichtbar zu machen, soziale Ungerechtigkeiten zu benennen und Räume für positive Veränderungen zu öffnen.

Bildung als Fundament: Adlers berühmter Ausruf „Read! Look at paintings! Go to the opera! Learn history!“unterstreicht ihre Überzeugung, dass Schauspieler*innen mehr Welt in sich tragen müssen als ihr Publikum. Schauspiel war für sie keine Therapie, sondern ein Akt der kontinuierlichen künstlerischen und intellektuellen Erweiterung.

 

TYPISCHE ÜBUNG

„Imaginäres Umfeld“ – ohne Text, ohne Szene:
Eine Schauspieler*in betritt einen leeren Raum und versetzt sich durch die eigene Vorstellungskraft in ein spezifisches Umfeld – beispielsweise ein prächtiges Schloss, ein trostloses Waisenhaus oder einen belebten U-Bahnsteig. Anschließend beschreibt er/sie mit größter Genauigkeit, was er/sie „sieht“, „hört“ und „spürt“.

Durch diese Übung wird die Vorstellungswelt des/der Schauspielers/ der Schauspielerin zum unmittelbaren Bühnenraum, und die Handlungen entspringen einer inneren, imaginären Realität.

In der konkreten Textarbeit legte Adler den Fokus auf die präzise Erfassung von:

  • Handlungsabsicht
  • gesellschaftlichem Status der Figur
  • subtextuellem Ziel

– und weniger auf die spontane Erzeugung von Emotionen.

WER MIT STELLA ADLER GEARBEITET HAT – UND WARUM IHRE LEHRE SO TIEFGREIFEND WIRKT

Zu ihren zahlreichen und einflussreichen Schüler*innen zählten einige der größten Filmschauspieler*innen des 20. Jahrhunderts:

  • Marlon Brando (obwohl er auch mit Strasberg arbeitete, war Adlers Einfluss auf sein Verständnis von Schauspiel prägend)
  • Robert De Niro
  • Harvey Keitel
  • Salma Hayek
  • Benicio del Toro
  • Mark Ruffalo

Viele ihrer Schüler*innen beschrieben Adlers Unterricht als intellektuell befreiend. Sie habe ihnen geholfen, größer zu denken und ihre Figuren nicht als passive Opfer ihrer Umstände, sondern als aktive Gestalter ihrer Realität zu verstehen.

BUCHTIPPS:

  • The Art of Acting – Stella Adler (Einblicke in ihre Philosophie)
  • The Technique of Acting – Stella Adler (mit einem aufschlussreichen Vorwort von Marlon Brando)
  • Stella Adler on America’s Master Playwrights – ihre Interpretationen von Tennessee Williams, Arthur Miller und Edward Albee
  • Stella Adler on Ibsen, Strindberg, and Chekhov – ihre Sicht auf europäische Dramenklassiker

Fazit

Adlers Methode führt Schauspieler*innen weg von einer rein persönlichen Nabelschau hin zu einer erweiterten, durch Imagination geschaffenen Welt. Ihre Technik fordert gleichermaßen die Vorstellungskraft, den Intellekt und das Verantwortungsbewusstsein des/der Spielenden. Eine Schule für alle, die über ihre eigenen Grenzen hinauswachsen wollen.

Stanislawskis Erbe: Die Wurzeln moderner Schauspielkunst

Stanislawski legte das Fundament für ein modernes, psychologisch fundiertes Schauspiel – und prägte damit Generationen von Schauspieler*innen. Chekhov und Adler zeigen, wie unterschiedlich seine Ideen weitergedacht werden können: Der eine setzt auf Imagination und Energie, die andere auf Analyse, soziale Verantwortung und die Kraft des Textes.

Alle drei Ansätze haben eines gemeinsam: Sie wollen Figuren lebendig und glaubwürdig machen – aber der Weg dorthin kann ganz verschieden sein. Und genau darin liegt die Chance: Du darfst ausprobieren, vergleichen, auswählen – und herausfinden, was dich stärkt.

Im nächsten Teil lernst du drei weitere einflussreiche Methoden kennen – radikaler, körperlicher, improvisierter: Lee Strasberg, Sanford Meisner und Viola Spolin.

Wie geht es weiter?

Im zweiten Teil dieser Reihe geht es um drei Methoden, die stärker ins Persönliche und Spontane führen:

Lee Strasberg setzt auf emotionale Erinnerung und radikale Identifikation mit der Figur.
Sanford Meisner lenkt den Fokus auf aktives Zuhören, Reaktion und Präsenz im Moment.
Viola Spolin bringt mit Improvisation und Spiel eine neue Leichtigkeit ins Schauspieltraining.

Hier geht’s zu Teil 2: Schauspielmethoden Teil 2 – Von Strasberg bis Spolin

Picture of Michaela Krauss-Boneau

Michaela Krauss-Boneau

leitet seit über 35 Jahren die Schauspielschule Krauss in Wien. Als ausgebildete Schauspielerin und Berufsfotografin verbindet sie künstlerische Praxis mit einem klaren pädagogischen Anspruch. In ihrer Arbeit stellt sie die persönliche Entwicklung der Schüler*innen und ihrer Talente in den Mittelpunkt, getragen von humanitären Werten und dem Anspruch an eine fundierte, zeitgemäße Schauspielausbildung.

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